Die datafizierte Schule

Bock, Annekatrin; Breiter, Andreas; Hartong, Sigrid; Jarke, Juliane; Jornitz, Sieglinde; Lange, Angelina; Macgilchrist,
Felicitas (Hrsg.): Die datafizierte Schule. VS Springer, 2022.

Einleitung
Datafizierte Gesellschaft | Bildung | Schule

Andreas Breiter & Annekatrin Bock

Zum Buchkapitel
Mit dem Buch „Die datafizierte Schule“ betrachten wir Datafizierung als einen gesellschaftlichen Metatrend im Kontext von Digitalisierung und als Prozess, in dessen Verlauf Entscheidungen im schulischen Kontext basierend auf digitalen Daten getroffen werden. Ziel der Beiträge ist es einerseits, die Ambivalenzen, Spannungen und Brüche, die bei der Produktion, Sammlung, Distribution und Verwendung von schulischen Daten zu Tage treten, anhand von empirischem Material zu rekonstruieren. Andererseits diskutieren einzelne Kapitel die methodischen Herausforderungen, derer sich Datafizierungsforschung im schulischen Bildungskontext stellen muss. An den Schnittstellen von Unterrichtspraktiken, Softwareproduktion, Schulmanagement und Schulsteuerung schließen unsere Betrachtungen an Forschungen an, die sich aus critical data studies Perspektive mit datafizierter Gesellschaft und Bildung auseinandersetzen.
Mit unserem qualitativen, schnittstellenübergreifenden, interdisziplinären methodischen Ansatz reagieren wir auf Methodenappelle der critical data studies. Dabei liegt unser Fokus auf Ambivalenzen quer zu den Themenfeldern bisheriger kritischer Forschung, erweitert deren Perspektive und zielt darauf ab, durch das Aufzeigen von Spannungen, Brüchen und Ambivalenzen Gesprächs- und Denkanstöße zu gesellschaftspolitischen Implikationen schulischer Datafizierung zu geben. Indem wir auf die Ambivalenzen blicken, die durch Datafizierung hervorgebracht werden und wiederum selbst Datafizierung hervorbringen, irritieren wir kritisch-abwägend den Umgang mit Daten und den Blick auf Datenpraktiken und laden an Daten und Datafizierung interessierte Wissenschaftler*innen wie Bildungspraktiker*innen dazu ein, über unterschiedliche Umgänge mit Daten in einer datafizierten Schule nachzudenken und dabei diverse Zukünfte von datafizierter Schule zu reflektieren.

Kapitel 1
Datafizierte Schulaufsicht?! Zur Erfassung des komplexen Zusammenspiels von wirkmächtigen Dateninfrastrukturen und vielfältigen Datenpraktiken

Sigrid Hartong & Vito Dabisch

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Ziel des Kapitels ist es, die wachsende Datafizierung von Schulaufsicht aus einer critical data studies Perspektive heraus zu betrachten und ein entsprechend differenziertes Verständnis für die Wirkmächtigkeit von Dateninfrastrukturen zu entwickeln. Mit dem Blick auf Schulaufsichtspersonen wird der Fokus auf eine Personengruppe gelegt, die im Rahmen datenbasierter Educational Governance eine zentrale, aber auch ambivalente Rolle spielt – nämlich „zwischen“ Kontrolle und Beratung, Pädagogik und Verwaltung sowie hierarchisch-regulierter und autonom-professionalisierter Steuerung.
Dennoch ist die Schulaufsicht gerade in der Datafizierungsforschung bislang tendenziell unterbelichtet geblieben. Diese Lücke adressierend, führten wir im Kontext von DATAFIED sowohl eine umfangreiche Dokumentenanalyse als auch eine Interviewstudie durch, um die Dateninfrastrukturen, in denen sich Schulaufsichtspersonen bewegen, ebenso wie ihre vielfältigen und spannungsreichen Datenpraktiken im Umgang mit diesen Strukturen, systematischer zu erfassen und zu reflektieren.

Kapitel 2
Zur Erfassung und Modellierung der „Hinterbühne“ von Datenflüssen:
Das Beispiel Unterrichtsausfall

Juliane Jarke, Sigrid Hartong, Tjark Raabe, Vito Dabisch, Angelina Lange, Irina Zakharova, Andreas Breiter

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Dieses Kapitel beschäftigt sich mit Datenflüssen bzw. spezifischer mit der Frage, wie Daten innerhalb von Dateninfrastrukturen „beweglich“ gemacht werden. Während Datenflüsse im Rahmen datenbasierter Steuerung bzw. Schulentwicklung oftmals funktional betrachtet und auch visuell dargestellt werden – also etwa bezüglich einer möglichst „reibungsfreien“ Datenweitergabe – liegt der Fokus dieses Kapitels im Sinne einer critical data studies Perspektive vor allem auf den für Datafizierung hochgradig konstitutiven Reibungen, Brüchen, Spannungen sowie auf der aktiven „Herstellung“ von Datenbewegung als Festschreibung, aber auch als Verhandlung bestimmter datafizierter Sichtbarkeiten.
Gleichzeitig stellt sich die Frage, ob und wie die Darstellung einer derartigen Perspektive modelliert und damit visualisiert werden kann. Beides diskutieren wir am Beispiel von Unterrichtsausfalldaten, deren Produktion, Verarbeitung und Weitergabe uns im DATAFIED-Verbund als hochpolitischer, und als ebenso komplexer und ambivalenter Prozess begegnet ist.

Kapitel 3
Digital ist besser!? – Wie Software das Verständnis von guter Schule neu definiert

Jasmin Troeger, Irina Zakharova, Felicitas Macgilchrist, Juliane Jarke

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In diesem Beitrag werden die Entwicklung und der Vertrieb von Bildungstechnologien untersucht: Lernsoftware und Schulverwaltungssoftware. Gefragt wird, welche Probleme diese Software aus Sicht ihrer Softwaregestaltungsteams lösen soll, und wie dabei eine „gute Schule“ imaginiert wird. Analysiert werden Interviews mit Softwaregestaltungsteams aber auch einzelnen Personen, das heißt, Geschäftsführer*innen, Entwickler*innen, Designer*innen, Projektmanager*innen, Vertriebler*innen und weiteren an der Entwicklung und Distribution von Schulsoftware beteiligten Personen.
Zwei zentrale Themenfelder werden identifiziert: Die Gestaltungsteams zielen darauf, (1) die Entlastung der schulisch relevanten Akteur*innen zu ermöglichen und (2) Eigenverantwortlichkeit an Lernende und Schulen zu übertragen. Welche Spannungen dabei entstehen und wie diese Ziele „gute Schule“ als individualisiert jedoch kollektiviert und als reibungslos jedoch spannungsreich entwerfen, wird im Fazit diskutiert. Der Beitrag skizziert zudem alternative Fluchtlinien zu anderen Entwicklungsmöglichkeiten und kartiert weitere Fragen für zukünftige Forschung zur Entwicklung von digitalen Bildungstechnologien.

Kapitel 4
Adaptive Lernsoftware oder adaptierende Lehrkräfte? Das Ringen um Handlungsspielräume

Felicitas Macgilchrist, Sieglinde Jornitz, Ben Mayer, Jasmin Tröger

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Viele Hoffnungen, aber auch Kritik richten sich auf und an neue kommerzielle Akteure im Schulsystem. Was Anbieter von Software für den Unterricht konzipiert haben, tritt oftmals in eine Spannung zu dem, wie Lehrkräfte die Software einsetzen wollen. Der Beitrag lässt nun die Anbieter einer bestimmten Software, hier: System|X und Lehrkräfte, die diese in ihrem Unterricht verwenden, in der Analyse aufeinandertreffen. Durch die Relationierung von Aussagen zu den drei Aspekten der Leistungsdifferenzierung, Fehlertoleranz und Belohnung zeigt sich ein Ringen um den jeweiligen Handlungsspielraum. In den Interviews zeigt sich, dass die Ziele der Anbieter durch den Einsatz im kontextspezifischen Unterricht weitgehend adaptiert werden.
Diese Adaption geschieht durch die Orientierung der Anbieter an die eigenständige Nutzung durch Schüler*innen, die aber herausgefordert wird durch die Einbettung der Lernsoftware im sozialen, materiellen, körperlichen, sprachlichen und symbolischen Gefüge des Unterrichts. Aus der Perspektive der Lehrkräfte und Anbieter zeigt sich ein Ringen um die Möglichkeit, im Unterricht vermitteln zu können. Insgesamt identifiziert der Beitrag eine „vermittelte Vermittlung“, in der die Software vermittelt, wie die Lehrkräfte vermitteln können und die Lehrkräfte vermitteln, wie die Software vermitteln kann. Sowohl Lernsoftware als auch Lehrkräfte zeigen sich in einem bestimmten Sinne als adaptiv bzw. adaptierend. Schule und Unterricht werden, so die Implikation, neu konfiguriert, wenn diese vermittelte Vermittlung zu neuen Entscheidungen in der Alltagspraxis führt.

Kapitel 5
Pandemiebedingte Schulschließungen und die Nutzung digitaler Technologien. Welchen Einblick Twitter- und Interviewanalysen geben können

Ben Mayer, Sieglinde Jornitz, Irina Zakharova, Juliane Jarke, Yan Brick

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Um besser zu verstehen, vor welchen Fragen und Aufgaben Lehrer*innen in Deutschland in den Schuljahren 2019/20 und 2020/21 hinsichtlich des Einsatzes von digitalen Medien standen und mit welchen digitalen Medien, Schulen versucht haben, Unterricht auf Distanz zu ermöglichen, stellen wir im Folgenden die Auswertung zweier Datenkorpora vor, die im Rahmen des Verbundprojektes DATAFIED erhoben wurden. Während Twitter-Tweets mit dem Hashtag #twitterlehrerzimmer und #twlz den einen Datenkorpus bilden, umfasst der andere Datenkorpus fünfzehn online geführte Interviews mit sieben Lehrer*innen aus drei Projektschulen.
Die Analyse bezieht sich auf drei relevante Zeiträume im Verlauf der pandemiebedingten Schulschließungen: (1) das Frühjahr 2020 kurz nach den ersten Schulschließungen, (2) den Sommer 2020 kurz vor den Sommerferien und (3) um das Frühjahr 2021, also ein Jahr nach den ersten landesweiten Schulschließungen. Doch ob dieses Interesse der Community anders oder gleich jenem der Lehrer*innen in der Praxis der Projektschulen ist, wollen wir versuchen, mit der Zusammenschau beider Datenkorpora zu beantworten.

Kapitel 6
Werkstattbericht. Ein Blick auf die Hinterbühne der DATAFIED Forschung

Ben Mayer, Felicitas Macgilchrist, Annekatrin Bock, Andreas Breiter, Vito Dabisch, Sigrid Hartong, Juliane Jarke, Sieglinde Jornitz, Angelina Lange, Ben Mayer, Tjark Raabe, Jasmin Troeger, Irina Zakharova

Zum Buchkapitel
Inspiriert von reflexiven Projekten, zielt dieser kurze finale Beitrag im Buch darauf, einen Einblick in die sozialen, materiellen, idiosynkratischen und rekursiven Forschungspraktiken während des Projekts. Auf dem Weg zu den Ergebniskapiteln ko-konstituieren diese Praktiken ihren Gegenstand mit, z.B. Datafizierung, Daten, Schule, Schulaufsicht, Lernsoftware, Unterricht, Schulverwaltungssoftware und die Schnittstellen zwischen Entitäten.
Der Beitrag reiht sich somit in die Tradition der Publikationen ein, die die praktischen und sozialen Aspekte des „doing research“ eruieren, mit dem Ziel, wenngleich nur ausschnitthaft und partiell, Lesenden ein besseres Verständnis dieses spezifischen Forschungsprozesses zu geben.